Venedig versinkt,
lieber Celso, meine Damen und Herren. Eine schwimmende Stadt. Wie ein phantastischer Einfall. Die Stadt, die im Meer versinkt.
Venedig stirbt langsam - wir schauen zu. Und die Realität will es auch, dass dies Venedig, dessen Weltkarriere als ästhetischer Gegenstand in dem Moment begann, in dem es seine Weltmachtstellung als Handelsplatz verlor, nicht nur den einen Tod stirbt. Die Stadt in der Lagune, die Jahr für Jahr von - ja, von wie viel Millionen? - reisenden Romantikern überschwemmt wird, droht in dem Strom ganz unromantisch zu ersaufen.
Als ich vor einem gefühlten halben Jahrhundert zum ersten Mal nach Venedig kam, war es noch nicht ganz so wie heute, aber schon auf dem Weg dahin. Dass ich Piazza San Marco und Piazzetta ohne einen einzigen Menschen vor die Kamera bekam, dazu brauchte es extrem besondere Umstände, auch zu der Zeit schon.
Der Kriegsdienstverweigerer war nach Venedig getrampt, mit Schlafsack, doch ohne Geld. Die Nächte im Bahnhofskeller, auf die das hinauslief, waren kostenlos - aber auch kurz. Sie endeten für alle die irgendwie Obdachlosen da unten mit einem polizeilichen Hinauswurf spätestens im Morgendämmer. So lässt sich also sagen, dass es die unbarmherzige Staatsgewalt am Einsatzort Stazione Santa Lucia war, die dem Pazifisten eine unvergleichliche Erfahrung bescherte. Ein friedvolles Venedig. Die Serenissima, menschenleer, im paradiesischen Zustand der Selbstverlorenheit sozusagen.
Wieso komme ich drauf? Unter den Städtebildern von Celso Martínez Naves sind die Venedig-Veduten keine kleine Gruppe. Und darin sind bezeichnender Weise auch solche der nächtlich beziehungsweise frühmorgendlich verwaisten Piazzetta mit Markussäule. Und eine der venezianischen Stadtansichten lässt, jenseits der Kirche Santa Maria della Salute, über der Mündung des Canal Grande in den Canale di San Marco - wie ein erfülltes Versprechen - die aufgehende Sonne sehen.
Ja, die Stunde, die die Nacht zum Tag verwandelt, zieht diesen Maler an. Immer wieder - nicht nur in Venedig. Dies ruhige Übergleiten vom einen zum andern. Wenn die Kulissen des urbanen Lebens noch darauf warten, bespielt zu werden.
Mit der Kamera fängt Celso Martínez Naves die gesuchten Momente ein. Im Atelier in Freiburg präpariert er - feilt er die Bildidee malerisch aus. Gedanke, Empfindung und Vorlage müssen zusammenstimmen, damit ein Bild draus wird. Die fotografische Aufnahme reflektiert eine Vorstellung, die Malerei präzisiert sie und misst sie sich an. Das mag ein längerer Prozess sein.
Dass der in einer Kleinstadt im nordspanischen Asturien geborene Künstler nach Freiburg fand, beschreibt er als glückliche Fügung. Ein Glück war gewiss, dass er in Freiburg - an der Außenstelle der Karlsruher Kunstakademie - den Lehrer Peter Dreher fand. Dreher, den Eigensinnigen, der dem Zirkus Kunstbetrieb entschieden den Rücken kehrte. Und einfach malte! So wie er es für sich selbst als wichtig und richtig ansah. Unbeirrt.
Was anderes hat sein Schüler Celso Martínez Naves denn auch nie getan. Er kam aus einer Gegend, die vom Kohlebergbau lebte. Die Landschaft Asturiens war - damals - davon geprägt. Viele, die er kannte, lebten davon. Aus dieser Erfahrung entstanden Bilder. Bergarbeiter im Schacht. Kohlschwarze Bilder. In die unter Tage herrschende Dunkelheit eingebettete Szenen. Helldunkel. Sehen wir es falsch, wenn wir darin auch den fernen Nachklang des Barock erkennen?
Die Kohlenminen gab Celso bald auf. Ein Maler des Lichts, der Wechselwirkungen von Licht und Dunkel, ist er noch.
Nie hat er sich, eifernd oder klügelnd, um das geschert, was man heute eine „Position“ nennt. Er hat das ihm Naheliegende gewählt: die Malerei als seine Arbeit. Und sich in der Malerei dann auf das konzentriert, was ihn anzog. Er ist bei seiner Linie geblieben. Und dabei nie stehen geblieben in der ganzen Zeit.
Was ich zuerst von ihm sah, war - 1985 - in Freiburg eine Ausstellung von Nachtstücken. Wir kennen ja den Zauber des Nocturne. Den sanften Fluss der Uneindeutigkeit. Celso allerdings ist eher ein Skeptiker unter den Freunden des sparsam belichteten Dunkels. Von Mondscheinromantik weit entfernt ist die Welt des Freiburger Spaniers - keine intime Winkelwelt, die eine gute Nacht schutzmadonnenhaft ummantelt.
Die faktischen Unbestimmtheiten des Nächtlichen verbinden sich ihm mit der Unbestimmtheit des Ortes - an Straßen oder Schienenwegen. In Sprüngen von Ort zu Ort bewegen sich die Bilder. In den Fluchtlinien der Straßen, in wiederholten Blicken durch die Windschutzscheibe zeichnet sich ein Unterwegssein ab. So wie in den Porträts gesichtsloser Orte. Güterbahnhof, Flughafen, Seehafen, Binnenhafen, Mautstation, Tankstelle. Alles könnte überall sein.
Das gilt in der Mehrzahl auch für die Stadtlandschaften. (Venedig ist ein besonderer Fall, wie Freiburg mit dem Münster - wovon noch zu reden wäre.) Das notorisch Unvertraute ist in den Bildern ein Faktor von Spannung - dies viel eher denn ein Indiz für ein existenzielles Manko. Einsamkeit? Isolation? Die Bilder kehren nichts dergleichen hervor. Sie wollen nicht erzählen. Auch nichts von der Unwirtlichkeit der Welt. Ein Empfinden von Fremdheit ist ihnen eigen, doch ist es wohldosiert. Ein guter Grund für das immer wieder fragende Hinsehen.
Fest steht, dass der Maler nichts vom Standpunkt der Gewissheit aus betrachtet - dass er vielmehr mit den spezifischen Mitteln der Malerei Sichtbares zu verifizieren sucht. Ein Freiburger Künstlerkollege, Richard Schindler, schrieb seiner Malerei treffend eine „präzise Vagheit“ zu.
Als ich vor vielen Jahren erstmals Bilder von ihm sah, verbanden sie sich für mich mit denen der Spanischen Realisten - einer Gruppe von vier Madrider Künstlerinnen und Künstlern, die in die Realismusdebatte der 1970er Jahre einen eigenen, leisen Ton eingebracht hatte. Unbekümmert um Zeitgeist und Tendenz, resistent gegen Themen, allein auf den Augensinn konzentriert, auf das sichtbar Naheliegende, waren die Quintanilla und Lopez, Lopez-Garcia und Moreno.
Celso spricht von den älteren Kollegen mit Hochachtung. Auf seine früh getroffenen Entscheidungen hatten sie indes keinen Einfluss. Er kannte sie schlicht noch nicht. Differenzen, was das Sujet betrifft, sind auch offensichtlich. Doch eben nicht weniger ist dies die Seelenverwandtschaft, die sich darin äußert, wie die bildnerische Beschreibung - durch das Moment einer inneren Distanz - das Beschriebene ins ungreifbar Erscheinungshafte umwendet. Es in einer Unerreichbarkeit justiert.
Celso Martínez Naves will seine mehr oder weniger menschenleeren Städte bei Nacht und im morgendlichen Zwielicht nie und nimmer als „trostlos“ ansehen. Sein Grau finden wir wirklich nur selten düster. Er spielt nicht den „Nachtfalken“, nicht den durch die Nacht streifenden Edward Hopper. Was sich bei ihm atmosphärisch zur Stimmung verdichtet - man mag es melancholische Färbung nennen. Mehr sollte man nicht hinein deuten.
Eine Sache für sich sind die Grünen Bilder, von denen etliche in der Ausstellung sind. Anders sind sie: selbst auch als die anderen Landschaftsbilder, mit den hohen Himmeln und lang gestreckten Horizonten. Natur ist in diesen Waldstücken viel eher nahsichtig und quasi intim innenräumlich verstanden. Die kleinen Thailandtafeln auf Hartfaser, in denen die Emmendinger Schau um zwei Werkjahrzehnte - bis Mitte der 1990er Jahre - zurückreicht, sind von frappierender Materialität. Und von einer Kompaktheit, die noch drängender wirkt, wo die Tafeln zum Block zusammengefasst sind. Es scheint darin die Malerei der unmäßig wuchernden Tropennatur direkt auf den Leib zu rücken. Oder von deren satter Leiblichkeit zu kosten.
Die neueren Bilder vom Sternwald geben sich noch wieder anders. Viel weniger physisch, dabei nicht weniger malerisch. Wenn man genauer drauf schaut, ist auch so ein Freiburger Waldstück in dem Blättergeflirr nichts anderes als Handlung mit Farbe. Was als Wald am Ende bildhaft dasteht, ist ein über diverse Entscheidungen gesteuerter, genuin malerischer Verlauf.
Und das gemalte Münster, das wir hier haben, ist auch nicht, was uns in Reproduktionen ständig vor Augen ist. Und nicht erst wenn wir der Leinwand nah kommen, wie der Maler beim Malen, zeigt sich dies: Schon Blickwinkel und Schnitt des Blickfelds tun das ihre. Der versierte Raummaler versteht es, ein Spannungsmoment zu etablieren, - im Bekannten das Unbekannte aufzurufen, indem er den Gegenstand nicht wie üblich, sondern unter seinen Bedingungen zeigt.
Für den Blick ins Innere - für diese neue Helldunkelgeschichte - erlaubt er sich, das Kirchenschiff von Mobiliar frei zu räumen. Die Glasmalerei in der Freiburger Bischofskirche gibt dem Maler, der das Interieur mit seinen unvermeidlich engen Vorgaben sonst lieber meidet, reichlich koloristischen Spielraum. Auch endet die Farbigkeit nicht an den Rahmen der Fenster. Die gotischen Bündelpfeiler sind durchaus nicht Grau-in-Grau. Für Lichtfleck, Lichtbahn, Schimmer und Widerschein ist Platz. Und dann ist da noch etwas. Ein Ding wie eine überdimensionierte trüb leuchtende Laterne. Vision eines Altars. Oder Aquarium? Ausgedacht ist es nicht. Aber ein willkommenes Rätsel. Unaufgelöst rückt es ins Zentrum.
Und unversehens in die Unkenntlichkeit, wie die Ansichten unvertrauter, weit entfernter Städte, gleitet ein Bild wie das der Freiburger Kaiser-Joseph-Straße. Aus dem schwach beleuchteten Tunnel des Straßenzugs schiebt sich eine Trambahn. Der Schattenriss einer vereinzelten Figur geht fast unter. Kaum dass er etwas festhält, lässt der Maler es schon wieder los. Das ist das gleitende Gesetz des Nocturno. Und das Straßenpflaster ist hier vor allem eines: Spiegelfläche spärlichen Lichts. Regennässe bindet den Widerschein der Leuchtstoffröhren; das Pflaster macht daraus ein helles Flechtwerk. Dem Maler kommt es entgegen. Und so behält er sich vor, Pflastersteinstruktur in Bilder selbst auch hinein zu dichten. Zum Beispiel in das der Calle Castilla in Santander. Es verlangte offenbar dies Farbflirren im leeren Vordergrund.
Man mag in Celso Martínez Naves einen Realisten sehen. Vor allem aber ist er ein MALER, mit einer Neigung nicht allein zum atmosphärischen Grau. Hier in dem Bild der spanischen Stadt hebt sich ein licht blaues, mit Lampen blass bestirntes Dreieck vom in der Frühe noch halb verschatteten Straßenraum ab. Himmelblau läuft in schmalen senkrechten Bahnen die Fassaden einer Häuserzeile herunter. Das satte Gelb erleuchteter Fenster fließt ein Stück weit über Gehsteig und Fahrbahn.
Fensterbilder hat Celso Martínez Naves auch mal gemalt. Allerdings ohne wirkliches Interesse an voyeuristischen Einblicken. Ohne dass ihm das Fenster zur Bühne und er darüber zum Bühnenautor geworden wäre.
Und wo sich einmal Realismus und Magischer Realismus berühren, da stimmt er entschieden für und gegen beides. Sein Brügge-Nocturno ist so ein Fall - mit der auf eine dunkle Folie hellgelb projizierten Gotik, dem grünen Schopf der Trauerweide, den verflüssigten Spiegelbildern. Mir fällt bei der Lichtregie Franz Radziwill ein. Aber der alte Phantast hatte noch seine sicheren Kniffe der Drehung ins Alptraumhafte. Der Maler, den wir hier vor uns haben, verweigert sich dem. Setzt gleich auch den Punkt. Kein Spuk!
Und dann also Venedig. Wenn sich Motive bei häufigem Gebrauch abnutzen würden, wer weiß, was von Venedig noch wäre. Celso hat sich trotzdem dran getraut. Wie der große Claude Monet, der eigentlich nicht wollte. Weil ja, sichtlich, da schon alles gemalt war. Was und in wie vielen Jahren - das war einmal bei Beyeler in Riehen zu sehen, einen Herbst und Winter lang. Die ganze Vedutenflut, der ganze Zauber. Inklusive Monet. Der sich bei San Giorgio Maggiore zwischen den Kollegen von wer weiß aus welcher Herren Länder eben doch einen Platz ertrotzt hatte - und gemalt was das Zeug hielt, wenn es das Wetter wollte. Nicht nur Alice, der Frau an seiner Seite, war es eine Freude, wie er die Stadt im Meer seinem heimischen Wassergarten gleich machte. Der Gärtner von Venedig.
Impressionist wie Monet ist Celso Martínez Naves nun so wenig wie ein Fotorealist. Das heißt: Er muss nicht aktuell in die Lagune blinzeln, nicht zwanghaft den Eindruck erwecken, als wäre er der Erste an Ort und Stelle - und dies Venedig ein Motiv von so gut wie jungfräulicher Frische. Nein. Zwischen dem, was das Bild widerspiegelt, und dem, was Malerei hier ist, ist eine programmierte Distanz. Und der Maler weiß, in welch langer Reihe er bei dem Sujet steht.
Er reiht sich ein, weil es gefühlt (und objektiv nachvollziehbar) seins ist. Und es nicht sein kann, dass er drauf verzichtet, bloß weil vieles dagegen spricht, dass es allein seins ist. Dies schier unfixierbare Venedig. Reales Exempel aller erdenklichen „präzisen Vagheit“.
Sehen wir uns die Barockkirche Santa Maria della Salute an. Die große „Maschine“, die ihr Baumeister Baldassare Longhena vor Augen hatte. Hier haben wir sie zwei Mal. In lichter Dämmerung vom Canal Grande aus, von der Ponte dell' Accademia. Und von der Seeseite her, vielleicht von der Insel San Giorgio, denke ich. Da hat sie nur das Gewicht eines Augenblicks. Taucht eben auf. Oder versinkt.
Wir lesen darin die lange Geschichte Venedigs.
© Volker Bauermeister