Einführungsrede bei der Eröffnung der Ausstellung mit Gemälden von Celso Martínez Naves in der Galerie Meier in Freiburg am Freitag, 15. September 2017
Auch Künstler leben nicht unentwegt in den höheren Sphären der Geistigkeit und Schönheit. Auch Künstler haben einen Alltag zu bewältigen und gehen profanen Beschäftigungen nach. Sie gehen zum Beispiel einkaufen, sie gehen zum Friseur - und am Sonntag in einer Woche gehen sie, hoffentlich, wählen ... Manche Künstler gehen hin und wieder auch joggen. So Celso Martínez Naves, dessen Bilder Sie in diesen Räumen sehen.
Doch wenn Celso Martínez durch den Freiburger Sternwald joggt, dann schaltet der Maler in ihm nicht ab. Dann bleibt das künstlerische Auge aktiv und im Modus der Aufnahmebereitschaft. Selbst noch beim Sport nimmt der Künstler die Welt aus einer ästhetischen Perspektive wahr. Und was bei solcher Weltwahrnehmung herauskommt - herauskommen kann, das sehen Sie in dieser Ausstellung. Im kleinen Raum hängt eine Reihe von Landschaftsbildern mit Ansichten vom Freiburger Sternwald an den Wänden.
Naturbilder sind nur ein Teil des motivischen Spektrums von Celso Martínez. Andererseits zeigte mir der Künstler, als ich ihn in seinem Atelier zu Hause besuchte, ein ganz frühes Bild; wenn ich mich recht erinnere, nannte er es gar sein erstes Bild überhaupt. Es ist ein über zwei Meter hohes Hochformat mit weiter Aussicht auf eine hügelige und bergige Schwarzwaldlandschaft, gemalt am Beginn seines Kunststudiums, vielleicht im Jahr 1978. Das Besondere an dem Bild ist, dass es gleichzeitig eine Art Selbstporträt ist. Der bärtige junge Mann in Jeans und Jacke, der im Bildvordergrund in die weite Natur hinaus blickt, ist der Künstler selbst. Das Bild ist ein erstaunliches Werk, ein in Komposition und Farbigkeit bereits phänomenal gelungenes Gemälde, auch wenn Celso Martínez es mir in scherzhaftem Ton gleichsam als lässliche Jugendsünde präsentierte. Und dieses Bild verrät ein wenig von den Geheimnissen seiner Malerei. Der Künstler in dem Bild blickt gewissermaßen als "Verlängerung des Betrachterblicks auf das Bild" in die Landschaft - in eine für ihn, den Künstler seinerzeit fremde, weil typisch mitteleuropäische Landschaft: Celso Martínez ist in Südeuropa geboren und aufgewachsen, in El Entrego in Asturien, im Norden von Spanien.
Nicht lange vor Entstehung des Bildes war er nach Freiburg gekommen und hatte ein Stu-dium der Malerei bei Peter Dreher an der Freiburger Außenstelle der Karlsruher Kunstakademie begonnen. 1977 war das, und man könnte den Habitus des Künstlers in dem frühen Landschaftsbild als kontemplativ bezeichnen. Doch schwingt auch ein Moment von Distanz, beinahe Fremdheit in Haltung und Mimik mit. So, als müsste er sich in der fremden Umgebung erst noch orientieren, erst noch zurechtfinden.
Wenn wir nun den Künstler in diesem fragenden, nach Orientierung suchenden Habitus versuchsweise einmal einen Schritt zur Seite treten lassen - was in diesem Fall bedeuten würde: Wenn wir ihn aus dem Bild selbst heraustreten lassen, beispielsweise um auf der Leinwand noch kleine Änderungen vorzunehmen -, dann könnte diese fragende Haltung verraten und ausdrücken, was das Malen und die Malerei selbst für Celso Martínez als Künstler bedeutet: nämlich die Herstellung von Weltbezug, eine Suche nach Weltorientierung.
Auch wenn sich das frühe Landschaftsbild in vielerlei Hinsicht von seinen uns bekannten Bildern unterscheidet: Die Landschaft wird das zentrale Thema und Sujet seiner Malerei bleiben - freilich Landschaft in einem weiteren Sinn gefasst, in dem der Begriff beispielsweise auch Stadtlandschaften oder Industrielandschaften einschließt. Kaum finden sich bei Celso Martínez Stillleben, kaum auch Interieurs. Auch das Figurenbild fehlt bei ihm fast völlig; schon gar das Selbstporträt. Auffällig ist, dass viele, ja die allermeisten seiner Bilder menschenleer sind. Kaum dass sich in seine Ansichten urbaner Szenerien einmal als Schemen ein Passant verirrt. Und die Landschaften und Stadtlandschaften, die man von ihm kennt, unterscheiden sich stark Pinselduktus von der realistisch gemalten Landschaft des frühen Gemäldes mit seiner panoramatischen Aussicht auf den Schw-arzwald: Sie unterscheiden sich nicht allein im oftmals impressionistisch anmutenden Pinselduktus, sondern in ihrer Kleinräumigkeit und Ausschnitthaftigkeit.
Neben der Menschenleere seiner Bilder fällt als zweites auf, dass die wichtigsten Motive seiner Malerei - übrigens in bemerkenswertem Widerspruch zu dieser Menschenleere - Stätten des Transits sind, Stätten des Übergangs oder der Beförderung von Menschen und auch Gütern: wie Flughäfen und Schiffshäfen, Güterbahnhöfe und Brücken - oder eine Zollstation; sie sehen ein solches Motiv in dem Gemälde "Aduana", nämlich den nächtlichen Zollübergang Oberriet zwischen der Schweiz und Österreich.
In diesen Kontext gehört auch das Motiv des Leuchtturms. So wie sich Celso Martínez im Akt des Malens über die Welt zu vergewissern und zu orientieren sucht, so ist es die Funktion von Leuchttürmen, Schiffen eine räumliche Orientierung zu geben. Die Ausstellung bietet drei Bilder einer Serie mit Leuchtturmmotiven, sie zeigen den Cabo Mayor bei Santander an der Atlantikküste.
In den thematischen Kontext der Stätten des Transits gehören auch die bei Celso Martínez häufig begegnenden Straßen und Verkehrswege - auch Bahngleise oder Wasserstraßen, wie wir sie nicht nur in seinen Venedig-Bildern finden. Die Tankstellen aber, denen Celso Martínez eine umfangreiche Serie gewidmet hat, liefern gewissermaßen den Treibstoff für den Transit. Nicht wenige Gemälde übrigens nehmen exakt die Perspektive des Reisenden ein. In dem kleinformatigen "a Bilbao" fährt der Bildbetrachter mit den Augen gewissermaßen Autobahn - natürlich auf der Überholspur ... Auch die "Fenster"-Serie nimmt die Perspektive eines Passanten auf der Straße ein, von außen blickt man in nächtlich erleuchtete Zimmer.
Transitbilder sind die Malereien von Celso Martínez noch in anderer Hinsicht; nämlich im Hinblick auf die Tageszeiten seiner Bilder. Häufig sind die Sujets in der Dämmerung angesiedelt, im Übergang von der Nacht zum Tag. Betrachtet man Celso Martínez' Malerei einmal im Überblick, so könnte man den Eindruck gewinnen, dass dies eine Malerei der Stille und der Statik ist. Nichts geschieht in diesen Bildern, die Dinge, die den meist menschenleeren Raum bevölkern, sind meist nur einfach reglos vorhanden. Im Grunde gestaltet Celso Martínez also Szenen der Statik und Unbewegtheit. Doch dienen ihm diese statischen Szenerien als Bühne, auf der sich umso fulminanter eine spezifische Dynamik und Bewegtheit entfalten kann.
Diese Dynamik ist die Dynamik des Lichts. - Licht soll dynamisch sein, werden Sie jetzt vielleicht fragen. Wohlverstanden: ja, man macht sich das nur nicht immer klar. Licht besitzt zum einen eine gleichförmig-unbewegte Präsenz. Doch spricht man ja nicht zufällig vom Einfall des Lichts. Mit Blick auf Celso Martínez' Bilder mit Darstellungen der Dämmerung ließe sich von einem lautlosen Kampf des Lichts mit der Finsternis der Nacht sprechen. Goethe übrigens bezeichnet in seiner Farbenlehre die Farben wörtlich als "Taten und Leiden des Lichts". Entsprechend wohnt Celso Martínez' vermeintlich unbewegten Szenerien eine innere Dynamik inne, eine stille Dramatik, deren Quelle und Ursprung eben das Licht ist. Die eigentlichen Akteure der stillen Dramen und Schauspiele des Alltäglichen, die der Maler entwirft - es sind die Farben, in die das Licht sich auseinanderlegt.
Lassen Sie uns in diesem Zusammenhang noch einmal auf die Sternwaldbilder zurückkommen. Diese Bilder sind einerseits ganz statisch: Kein Spaziergänger geht, kein Jogger joggt durchs Bild; kein Lüftchen bewegt die Äste oder Blätter der Bäume und Sträucher. Dennoch sind die Bilder erfüllt von Dynamik und Bewegung - im impressionistisch-lebhaften, lebendigen Spiel der Farben, und auch im sichtbaren Einfall der die Bildfläche diagonal querenden Sonnenstrahlen. Man ist geradezu versucht, von einer Epiphanie des Lichts zu sprechen. Der Begriff Epiphanie stammt aus der Theologie und den Religionswissenschaften. Er bezeichnet den Vorgang des Erscheinens eines Gottes - im Christentum konkret: das Erscheinen Christi. In künstlerischen Darstellungen werden Epiphanien häufig durch Lichtstrahlen hervorgehoben, die das Göttliche umgeben, so wie die christliche Gloriole Christi umgibt. In zahlreichen Religionen ist Licht ein göttliches Attribut, in nicht wenigen Religionen die Sonne selbst göttlichen Ursprungs und Wesens. Im alten Ägypten zum Beispiel wurde der Sonnengott Amun-Re als oberster Gott verehrt.
In unserer modernen und glaubensfernen Zeit findet Celso Martínez dieses Göttliche in gänzlich profanen Zusammenhängen. Doch gewinnt das farbige Licht In seinen Bildern nicht selten den Anstrich des Übersinnlichen; es mutet bisweilen an wie ein Abglanz des Jenseits; ein eiserner Rest von Transzendenz in einer ansonsten transzendenzlos gewordenen Welt. In den Sternwaldbildern fallen die Strahlen der Sonne wie aus einem Jenseits in den Schattenbereich des Waldes ein. In einem Gemälde mit einer Ansicht des nächtlichen Schwäbisch Hall wiederum ist es das durch die Wolken dringende und sich im Wasser der Kocher spiegelnde Mondlicht, das die Szene in eine magische verwandelt.
Eine ebenso bedeutsame Rolle wie das natürliche Licht spielen in den Bildern künstliche Lichtquellen. Und selbst sie erscheinen bei Celso Martínez wie mit Transzendenz auf-geladen. Die "Cabina" oder Telefonzelle etwa, die einer nächtlich-urbanen Szene den Titel gibt: Im Schein der Straßenlampen wirkt sie in ihrem strahlenden Inneren selbst wie ein Kraftwerk, wie ein Hort von Licht und Energie. Geradezu übersinnliche Anmutung aber gewinnt die Leuchtkraft der Leuchttürme. Das Licht, das sie aussenden, umgibt sie wie eine Gloriole. Ähnlich spielt die Aura des Lichts bei Celso Martínez auch das Historische Kaufhaus in Freiburg ins Ätherische hinüber, sie verleiht ihm beinahe feenhafte Unwirk-lichkeit. So schön kann Malerei heute noch sein.
Auch die drei Bilder mit dem Motiv der Karlsbrücke in Prag schwelgen in subtilen Lichtwirkungen und -effekten. Sie verdanken sich dem Zusammenspiel unterschiedlicher Lichtquellen: dem Licht des anbrechenden Tags zum einen, dem Spalier der leuchtenden Laternen zum anderen. Und nicht nur unter dem Aspekt der malerisch-magischen Lichtregie will mir als eines der schönsten Bilder dieser Ausstellung "Quai des Orfèvres" in Paris erscheinen. Ich habe nachgeschlagen: Orfévre ist das französische Wort für Goldschmied. Der Goldschmied des Bildes aber ist nun kein anderer als Celso Martínez Naves selbst, der die Szenerie des von Laternen in gleißendes Licht getauchten Platzes in Paris vor uns ausbreitet wie ein schimmerndes, kostbares Geschmeide.
© Hans-Dieter Fronz